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Texte

 

KATALOGTEXT VON HARRY WALTER

 

Die gestickte Welt von Angelika Zeller ist naiv und perfid zugleich. In hinterhältigen Schlingen führt sie uns über eine kindliche Bildsprache in die Untiefen der Seele; dorthin, wo falsche Gefühle zu echten Gesichtern werden, und umgekehrt. Doppelbödiges ist hier gleich mehrfach angelegt. Die mit recht biederen Vorstellungen behaftete Praxis geduldigen weiblichen Stickens wird von der Künstlerin fast liebevoll aufgegriffen, um sogleich wieder – Stich für Stich – perforiert und konterkariert zu werden. Der in die „Heimarbeit“ investierte Fleiß amortisiert sich hier am Ende auch nicht als dekorativer Zugewinn. Im Gegenteil: In den aus einer Unzahl bunter Fäden zusammengesetzten Porträts kann schon aufgrund der gewählten Technik keine malerische oder graphische Finesse aufkommen, nicht einmal der Duktus einer Handschrift, erst recht keine versöhnliche Ornamentik. Nichts kann sich in diesen verfitzten Porträtlandschaften wirklich zu einem „Bild“ abrunden. Die einzelnen Fäden laufen neben- und übereinander her, ohne je miteinander zu verschmelzen: Wenn sie verschwinden, dann auf die andere Seite. Dort führen sie ein konfuses Schattenleben; zum Teil sind sie abgeschnitten, zum Teil führen sie auf abstrus anmutenden Umwegen wieder auf die Bildseite zurück, um dort zu jener speziellen zellerschen Tiefenschärfe beizutragen, deren haptische Qualitäten sich in einigen Fällen zu autonomen dreidimensionalen Objekten steigert. Dann kann ein Kopf zum Sofakissen werden, in das man allerdings nur ungern den eigenen betten würde. Jedenfalls nicht, ohne auf schlechte Träume zu spekulieren.

 


 

AUSZÜGE EINER REDE VON THOMAS WARNDORF

 

Gespinste, die dem Willen der Künstlerin entschweben, im wahrsten Sinn des Wortes, denn am Ende mäandern die Fäden nach einem eigenen Willen und Angelika Zeller hat Räume förmlich so aufgeladen, dass der Betrachter, die Betrachterin, etwas vollständig Ganzes sieht, wieder erkennt, wo zuweilen nur noch sparsame Andeutung der Form herrscht. Ein Spiel aus Linien und Licht, Metamorphosen, Kokons, Umgarnung. (…)
Dieses heillose Mäandern der Fäden, der Haare, ein bislang unbekanntes Sehererlebnis und eigenwillige Interpretation des Vertrauten. (…)
Sie arbeite mit Schärfe und Unschärfe zugleich, löst auf, was sie beim Sticken verbindet. (…)
Ich glaube angesichts der Arbeiten, dass Zellers Hingabe an ihr Werk zugleich den Zauber bewirkt, als sei alles aus sich selbst gewuchert, gewachsen, an die Oberfläche heraus gedrängt nach oben, nichts ornamentales, aber doch ein pflanzliches Wachsen.

 


 

TAGEBUCHAUFZEICHNUNG VON ANGELIKA ZELLER

 

Nicht die Zeit vergeht, wir vergehen und dabei entsteht etwas.
Heute nichts Neues. Am Morgen gehen die Bettler an meinem Atelier vorbei zur Arbeit. Der Eine trägt eine Trompete, ein Anderer trägt statt einem Instrument ein kleines Podest und hat sich das Gesicht weiß bemalt. Der Gitarrist scheint krank zu sein. Mittags gehe ich ins Rewe. Ein Kind sitzt in einem Einkaufswagen und schwenkt mit einer Mettwurst herum. Es lacht. Ich lache zurück. Im Atelier beobachte ich einen Besenreißer am Bein und lese in den Tagebüchern meiner Mutter. 1988 ist sie mit einem Freund und einer Schaufel nach Polen gereist, um ihren Bruder zu suchen. Er wurde dort 1944 von Partisanen erschossen. Sie hat seinen Ort gefunden. Im Tagebuch ihre Aufzeichnungen dieser Reise. Über eine Seite nur bunte gepresste Sommerblumen mit Tesafilm festgeklebt. Es sieht schön aus. Darunter steht Treblinka in ihrer geschwungenen Schrift. Daniela kommt vorbei und will wissen, was es hier Neues gegeben hat während ihrer Abwesenheit. Bevor sie nach Berlin abgereist ist, gab es auf der Kreuzung vor meinem Atelier einen Auffahrunfall. Als sie in Berlin war ereignete sich der gleiche Auffahrunfall noch einmal. Mit denselben Leuten. Am Abend setze ich mich auf den Gehweg vor meinem Atelier und stelle ein Pappschild vor mir auf. SIE HABEN HUNGER steht darauf. Die Bettler kommen von der Arbeit zurück und gehen an mir vorbei.

 

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